Vom Reden stirbt man nicht

Die Wahrheit macht frei. Deshalb ermutigt Mechthild Ritter, langjährige Seelsorgerin auf einer Kinderkrebsstation, Familien zur Offenheit am Krankenbett.

Allein mit der Angst

Meine Frau / Mein Mann / Unser Kind ist schwer erkrankt und muss möglicherweise sterben.“ Mit dieser Einsicht gerät jede Familie in eine Ausnahmesituation. Die Erwachsenen haben genug mit sich selbst zu tun: Ängste zu bewältigen, Therapieentscheidungen zu treffen, den Alltag neu zu organisieren. Zudem spüren sie den Drang, ihre Kinder zu schonen, ihnen die beklemmenden Erfahrungen und Gefühle im Umgang mit Sterben und Tod zu ersparen. Manche scheuen sich auch, „die Dinge zu berufen“. Lieber verpflichten sie sich zum „positiven Denken“ und dazu niemandem „die Hoffnung zu nehmen“. Das Ergebnis ist: Sprachlosigkeit, Tabus, gespielte Fröhlichkeit, Ablenkung. Jeder bleibt mit seinen Gedanken und Gefühlen, seinen Fantasien und Befürchtungen allein. Und wenn die Kranken dann wirklich sterben, nagt bei vielen Hinterbliebenen das Gefühl: Wir hätten so vieles noch zu besprechen und zu klären gehabt…
Keine Frage: Eine lebensbedrohliche Krankheit – ob von Eltern, Kindern, Verwandten oder nahen Freunden – belastet Familien extrem; sie schreit geradezu nach Aufmerksamkeit, Unterstützung und Bewältigung.
Auch wenn die Ärzte die Heilungschancen als gut veranschlagen: Zu Beginn einer Krebserkrankung ist da 100 Prozent Angst. Umso mehr hilft es, sich nicht in den eigenen Befürchtungen zu vergraben, sondern Entlastung zu suchen. Gespräche untereinander, mit guten Freunden und Seelsorgern, vielleicht auch mit Therapeuten und/oder in Selbsthilfegruppen leisten dazu einen entscheidenden Beitrag. Sie wecken Verbundenheit und Vertrauen. Sie schaffen Luft und befreien von dem Zwang, unangenehme Themen und Gefühle ständig zu unterdrücken. Gerade weil sie auch dem „schlimmsten Fall“ ins Auge schauen, vermitteln sie Abstand und ermöglichen eine realistische Einschätzung, was noch an Hoffnung bleibt. Und wenn der „schlimmste Fall“ tatsächlich eintritt, hat mit den Gesprächen die Trauerarbeit schon vor dem Tod begonnen.

Die Wahrheit ist kein Holzhammer

Die Wahrheit ist nämlich keineswegs ein „Holzhammer“, der alle Hoffnung totschlägt. Die Wahrheit heißt ja nicht nur: „Du wirst sterben.“ Zur Wahrheit gehören auch tröstliche Aspekte: Wie viel Zeit bleibt mir noch? Was kann, was möchte ich vorher noch tun? Woran werde ich sterben? Werde ich Angst oder Schmerzen haben? Werde ich allein sein? Oder ist jemand bei mir? Wer oder was ist mir wichtig und lieb? Diese Wahrheit unterscheidet Hoffnung von Illusion. Illusion hält die Realität außen vor: „Ich will es gar nicht wissen.“ Oder: „Sagen Sie meinem Mann nicht, wie krank er ist.“ Diese Verdrängung aufrechtzuerhalten, strengt an und kann sogar selbst wieder krank machen. Dagegen gründet Hoffnung auf der Realität; sie kennt die Fakten. Sie geht durch den Schmerz und bleibt trotzdem bestehen.

Ich erinnere mich an einen 16-jährigen, der in einem Aufklärungsgespräch erfuhr, dass alle Therapien ausgeschöpft und keine Heilung mehr zu erwarten seien. Er reagierte in drei Schritten: Erstens sagte er „Pech“ – und brachte so zum Ausdruck, dass er die Realität erkannt und anerkannt hatte. Zweitens erzählte er einen Witz, der im Himmel spielt – eine klare Ansage, wie er sich die Zukunft vorstellte. Und drittens wünschte er sich eine Familienreise auf eine warme Insel, die die Familie kurzfristig organisierte. Kurz nach der Rückkehr starb er.  

Standhalten statt ablenken

Gut also, wenn Familien eine Gesprächskultur entwickeln und pflegen, die einen offenen Umgang mit einer möglicherweise tödlichen Krankheit erlaubt.

Dazu gehören ein paar grundlegende Regeln:

1. Jeder Mensch hat ein individuelles Maß und Tempo, mit der er sich seiner eigenen Wahrheit annähert. Dieses Maß gilt es zu respektieren, das heißt: Die Kranken selbst (und die Kinder) geben vor, wann, worüber und mit wem sie sprechen möchten; sie entscheiden, wann es ihnen für den Moment reicht und sie das Gespräch beenden und wann sie es wieder aufnehmen möchten. 

2. Selten, erst recht nicht bei Kindern erschließen sich offene Gespräche durch direkte Fragen nach dem Motto: „Hast du Angst?“ Oder: „Willst du mit mir reden?“ Vielmehr geht es langfristig darum, eine Atmosphäre zu erzeugen, die dem Patienten eigene Fragen erlaubt und ihm ermöglicht, sich Schritt für Schritt an ein heikles Thema heranzutasten. Viele „testen“ zunächst vorsichtig und unauffällig, ob die Beziehung auch schwierigen Zeiten standhält. „Darf ich bei dir zweifeln, traurig sein, weinen, aufgeben? Darf ich Tabus ansprechen, auch wenn du dich dabei nicht wohl fühlst?“ 

3. Den Angehörigen bleibt die Aufgabe, der gewünschten Auseinandersetzung standzuhalten statt abzulenken, aufzumuntern statt wegzutrösten. Allein die Vorstellung, dass ein Kind seine Mutter fragt, ob es an seiner Krankheit sterben kann, löst Gänsehaut und innere Abwehr aus.

„Daran wollen wir lieber gar nicht denken.“ Dennoch gilt es in solchen Situationen, den eigenen Schrecken wahrzunehmen, durchzuatmen, aber nicht abzublocken, sondern das Signal zu geben: Mit mir darfst du über alles reden, was dich bewegt. Ich tauge, auch wenn’s mir mitunter schwer fällt, als vertrauenswürdiger und vertrauensvoller Gesprächspartner für gute und für schlechte Zeiten.

4. Erwachsene, die sich auf ein Gespräch mit einem Kind einlassen, müssen es nicht „besser wissen“. Denn Kinder „haben Ahnung“; ihr intuitives Wissen und Verstehen im Zusammenhang mit Sterben, Tod und Jenseits ist groß. Es reicht, ins Gespräch zu kommen und zu hören, was die Kleinen zu sagen haben. So können wir unsere Vorstellungen austauschen. Dabei geht es nicht um „objektive“ und „richtige“ Antworten; denn jeder kann nur überzeugend vermitteln, woran er selber glaubt.

5. Wer ein Kind unterstützen will, muss gleichermaßen für sich selbst sorgen. Denn Kinder spüren die Sorgen ihrer Eltern deutlich, auch wenn sie „gute Miene zum bösen Spiel“ zu machen versuchen. Sie wollen ihre Eltern nicht weinen sehen; umso ohnmächtiger würden sie sich fühlen. Deshalb tun Eltern, die sich gegenseitig stützen und Hilfe „von außen“ sichern, damit nicht nur sich selbst, sondern auch ihren Kindern einen guten Dienst. Es entlastet sie und erlaubt ihnen, ihren eigenen Weg zu finden.

Offene Umgang mit der Wahrheit ist großen Gewinn

Oft ist es die Angst vor starken Gefühlen der Verzweiflung, des Schmerzes und der Trauer, die es Angehörigen so schwer macht, offen zu reden. Möglicherweise verbirgt sich darin auch eine unbewusste Angst vor den starken Gefühlen von Nähe und Liebe, die ihnen die Kostbarkeit der gemeinsamen Lebenszeit bewusst machen und den Schmerz über den bevorstehenden Abschied noch vergrößern. Mit diesen verständlichen Ängsten dürfen die Kranken und ihre Verwandten bei sich selbst und den anderen liebevoll und annehmend umgehen. Aber gleichzeitig gilt es sich bewusst zu machen: Viel zu selten teilen wir uns im Alltag die gegenseitige Wertschätzung und Liebe mit. Und genau das tut weh, wenn jemand

(plötzlich) gestorben ist: sich nicht dankbar voneinander verabschiedet zu haben, seine eigene Liebe nicht mehr „losgeworden“ zu sein.
Dagegen verspricht der offene Umgang mit der Wahrheit großen Gewinn. Mutter oder Vater können ihren Kindern noch etwas mitgeben auf ihren Lebensweg, den sie dann allein weitergehen müssen: ein symbolisches Geschenk, eine Erlaubnis, eine Zusage oder eine Ermutigung. Sterbende Kinder tragen oft starke, für ihre Eltern tröstliche Bilder in sich, wie sie sich den Himmel vorstellen und wie sie in Verbindung bleiben können. Und statt einander schon zu Lebzeiten „loszulassen“, könnten Familien die verbleibende gemeinsame Zeit dazu verwenden, Vertrauen und Nähe noch einmal in besonderer Weise zu vertiefen, alle Liebe zuzulassen und auszutauschen, sozusagen aufzutanken auf Vorrat. Und wer zusammen traurig war, kann sich manchmal auch wieder gemeinsam entspannen und fröhlich sein.

Mechthild Ritter